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Tipps und Wissenswertes zur Mundhygiene von unterstützungsbedürftigen Menschen

Bild: Bigstockphoto / Pamela Au

Chronischer Zeitmangel, fehlende Kenntnisse und Kostenübernahmen führen in Deutschland zu einem weit verbreiteten Notstand bei der Mund- und Zahnersatzhygiene von Pflegebedürftigen, Menschen mit Handicap und an Demenz Erkrankten. Nach jahrelangem Drängen der Zahnärzteschaft haben Politik und Gesetzgeber jetzt endlich erste Maßnahmen eingeleitet. Tipps der Expertinnen für Seniorenzahnmedizin der Zahnärztekammer Niedersachsen (ZKN) helfen schon jetzt, eine gute Mundhygiene in Heimen und Zuhause zu fördern.

Seit dem 1. Juli 2018 ist § 22a Sozialgesetzbuch V in Kraft, der auch gesetzlich versicherten Pflegebedürftigen Anspruch auf zusätzliche Kassenleistungen zur Verhütung von Zahnerkrankungen einräumt. Außerdem hat das Bundeskabinett am 1. August das „Gesetz zur Stärkung des Pflegepersonals (PpSG)“ beschlossen. Es soll nach Bundestagsverabschiedung zum 1. Januar 2019 in Kraft treten. Zu den Eckpunkten zählen unter anderem die verpflichtende Zusammenarbeit von Zahn- und Hausärzten mit Pflegeheimen sowie die Freistellung sogenannter vulnerabler Patienten von einer Vorabgenehmigung für Krankentransportfahrten.

Erste Schritte für eine adäquate zahnmedizinische Versorgung

Die Vorstandsreferentin für Seniorenzahnmedizin der ZKN, Silke Lange, bewertet die Gesetzesinitiativen als „erste richtige Schritte“. Allerdings müssten noch weitere Anstrengungen unternommen werden, um Menschen mit Unterstützungs- und Pflegebedarf vor gesundheitlichen Risiken zu schützen, die durch chronische Entzündungen am Zahnfleisch und in den Mundschleimhäuten sowie durch fortgeschrittene Karies oder Druckgeschwüre drohten. „Massive bakterielle Beläge auf Zähnen und Zahnersatz oder unsaubere, schlechtsitzende Prothesen können sich fatal auf das Immunsystem, den Kreislauf, auf Herz und Lunge auswirken“, warnt die Oldenburger Zahnärztin. Lange fordert ausreichend Zeit für die Mundhygiene in der Pflege. Derzeit würden gerade einmal sechs Minuten am Tag für die gesamte Körperpflege vergütet. Zudem müssten Angehörige und Fachkräfte dringend adäquat geschult werden, um eine effektive Mundhygiene durchführen zu können.

Vor der Wahl des Heims oder Pflegedienstes genau hinschauen

Angehörigen empfiehlt die ZKN-Expertin und Göttinger Zahnärztin Gisela Gode-Troch, „bei der Auswahl des Pflegeheims darauf zu achten, dass eine Kooperationsvereinbarung mit einem niedergelassenen Zahnarzt besteht und das Personal regelmäßig in altersgerechter Zahnpflege geschult wird“. Die jetzt zusätzlich mögliche halbjährliche Prophylaxe sollte von gesetzlich Versicherten, die einem Pflegegrad zugeordnet sind oder Eingliederungshilfe erhalten, unbedingt in Anspruch genommen werden. Die prophylaktischen Leistungen umfassen unter anderem die Erhebung eines Mundgesundheitsstatus, die Aufklärung über die Bedeutung der Mundhygiene und Maßnahmen zu deren Erhaltung, die Erstellung eines Planes zur individuellen Mund- und Prothesenpflege sowie die halbjährliche Entfernung harter Zahnbeläge. Zusätzlich rät Gode-Troch zur regelmäßigen professionellen Zahnreinigung, die allerdings noch nicht von allen gesetzlichen Kassen übernommen wird: „Diese Eigenleistung lohnt sich in jedem Fall. Damit erhöhen Sie nicht nur die Lebensqualität Ihres Angehörigen, sondern schützen diesen vor zusätzlichen Gesundheitsrisiken“.

Tipps für die unterstützende Pflege von Mund und Zähnen

Bei der zahnärztlichen Beratung von Pflegekräften und Angehörigen stehen notwendige Standards, Techniken und Hilfsmittel für die Mundhygiene im Alter und von Menschen mit Behinderungen im Vordergrund. Pflegende müssten u.a. wissen, wie die Vielfalt an Prothesen, Brücken, Implantaten, Kronen etc. gehandhabt, gereinigt und nach einem oft notwendigen Entfernen aus dem Mund auch wieder richtig eingesetzt werden. Besondere Kenntnisse erfordere auch der Umgang mit bettlägerigen und dementen Patienten. „Langsam Vertrauen aufbauen, einfühlsam tägliche Rituale einüben – dann klappt die unterstützende Zahnpflege auch bei sehr schwer zugänglichen und desorientierten Patienten“, sagt Dr. Dorothee Riefenstahl, die in Gronau praktiziert. Die Zahnärztin berät seit vielen Jahren Heime, Pflegedienste und pflegende Angehörige.

Tipps für die tägliche Mund- und Zahnhygiene von unterstützungs- und pflegebedürftigen Menschen

  • Ziel der Mund-/Zahnpflege ist es, Beläge zu entfernen und die Anzahl der Bakterien deutlich zu verringern.
  • Mit Hilfe von individualisierten Bürstengriffen (Grifffläche durch weichen Ball, Schaumstoffisolierung oder auch zusätzlichen Kunststoffüberzug verstärken) können auch Menschen mit eingeschränkter Motorik noch weitgehend selbst putzen.
  • Dreikopfzahnbürsten erleichtern und optimieren die Zahnreinigung.
  • Nach vier bis sechs Wochen die Bürsten austauschen.
  • Zahnzwischenräume mit speziellen kleinen Zahnzwischenraumbürsten reinigen.
  • Mit fluoridhaltiger Zahnpasta putzen, zusätzlich einmal in der Woche konzentriertes Fluorid-Gel auftragen.
  • Zungenreiniger benutzen, wenn sich auch dort Beläge gebildet haben (wirkt sich positiv auf den Geschmack aus).
  • Prothesenreinigung: keine Zahnpasta beim abnehmbaren Zahnersatz verwenden, Prothesen abends mit Flüssigseife oder Kernseife (wirkt zusätzlich desinfizierend) abbürsten, einmal pro Woche Reinigungstabletten/-pulver verwenden solange es sprudelt – danach abspülen.
  • Selbstpflege: im Sitzen (ggfl. höhenverstellbarer Hocker), bei gutem Licht und mit Lesebrille, ggfl. mit Vergrößerungsspiegel.
  • Pflegende: nicht mit den Fingern den Mund offenhalten, sondern mit aufgerolltem Waschlappen oder einen speziellen Mundsperrer aus Kunststoff nutzen.
  • Wenn die Zahnreinigung kaum mehr möglich ist, Mundtupfer und flouridhaltige Mundspülung einsetzen.
  • Fluoridkur für drei Monate Dauer mit spezieller Zahnpasta (rezeptpflichtig).
  • Den Speichelfluss anregen durch zucker- und fruchtsäurefreie Getränke oder durch zuckerfreie Bonbons (vorzugsweise mit Xylit).
  • Bei geröteter Mundschleimhaut bzw. Anzeichen für Pilz- oder Bakterienbefall umgehend den Zahnarzt konsultieren.
  • Die Zähne und den Zahnersatz regelmäßig professionell in der Zahnarztpraxis reinigen lassen.

Wissenswertes zur Seniorenzahnmedizin

  • Schon heute sind fast 40 Prozent der 85- bis 89-Jährigen und 64 Prozent der 90-Jährigen und Älteren pflegebedürftig. Das Statistische Bundesamt rechnet mit einem Anstieg von 35 Prozent bis 2030. Die Zahl Pflegebedürftiger in der Altersgruppe 90+ wird sich verdoppeln. Mit dem Pflegestärkungsgesetz 2 erfolgte zum 1. Januar 2017 die Umstellung von drei Pflegestufen auf fünf Pflegegrade. Nach ersten Schätzungen erhöht dies die Zahl erfasster Pflegebedürftiger um weitere 500.000 Menschen.
  • Laut der fünften Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS V 2016) sind knapp 47 Prozent der Pflegebedürftigen nicht zahnlos und besitzen im Durchschnitt noch 12,1 natürliche Zähne, die aber oft nicht im ausreichenden Maß gepflegt werden können. Nur noch etwa 20 Prozent der Senioren tragen eine Vollprothese, die sich einfach herausnehmen, säubern und einsetzen lässt. Die mittlerweile weit verbreitete hochwertige Versorgungen mit Implantaten, Kronen und Brücken erschweren die Zahnpflege.
  • In der Ausbildung der Pflegekräfte wird die Alterszahnpflege nicht ausreichend vermittelt. Die Fachschulen können selbst entscheiden, wie intensiv sie dieses Thema behandeln.
  • Bisher lag es im Ermessen der Pflegedienste und Heimleitungen, ob und wie Zahnärzte systematisch in die Versorgung eingebunden werden und ob das Pflegepersonal geschult wird oder nicht. Mit dem gerade beschlossenen „Gesetz zur Stärkung des Pflegepersonals
    (PpSG)“ soll u.U. die Zusammenarbeit von Zahn- mit Hausärzten mit Pflegeheimen zum 1. Januar 2019 verpflichtend werden.
  • Das Pflege-Neuausrichtung-Gesetz aus dem Jahr 2013 erleichtert Kooperationen zwischen Zahnärzten und Alters-/Pflegeheimen, die durch die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen geregelt werden.
  • Deutschlandweit gibt es knapp 13.600 Pflegeheime. Mittlerweile hat fast jede fünfte Einrichtung einen Kooperationsvertrag mit einer Zahnarztpraxis vor Ort geschlossen. Die Tendenz ist weiter steigend. Neben der stationären Betreuung versorgen Zahnmediziner Pflegebedürftige auch im häuslichen Umfeld.
  • Mit Inkrafttreten von § 22a SGB V im Juli 2018 bekommen alle gesetzlich versicherten Patienten, die einem Pflegegrad zugeordnet sind oder eine Eingliederungshilfe erhalten, das Recht auf zusätzliche zahnärztliche Vorsorge. Dazu gehören u.a. die Befundaufnahme des Mundraums, ein Behandlungsplan, eine Beratung zu den notwendigen Pflegemaßnahmen und ggfl. eine halbjährliche Zahnsteinentfernung.